Die zehn Kutschen
Ein Märchen von Karlheinz Richter


Vor vielen hundert Jahren gab es einen langen, tiefen und breiten Fluss. Er schlängelte sich durch das große, weite Reich eines mächtigen Königs. An seinem rechten und linken Flussufer wuchsen grüne Wälder mit alten hohen Bäumen. Sie waren die schönsten weit und breit. An manchen Stellen wuchsen zwischen den Bäumen Kletterpflanzen und dichte Sträucher so nahe beieinander, dass der Wald fast undurchdringlich war. Die Menschen des Landes wagten sich nicht in diese Teile der Wälder, weil sie glaubten, dass es hier nicht mit rechten Dingen zu geht. Sie erzählten sich, dass hier die Waldelfen wohnten. Hierbei handelt es sich um Wesen, die den Wald beschützen und aufpassen, dass ihm nichts unrechtes geschieht. Dem mächtigen König aber war es egal, wer da im Wald wohnen sollte. Schließlich gehörte das ganze Land ja ihm alleine. Da musste er niemanden fragen, ob er sich etwas nehmen durfte oder nicht. So befahl er eines Tages seinem Ober-Jäger in den Wald zu gehen, um Bäume auszusuchen, die für den Bau seiner Kutschen benötigt wurden. 

König: „Wache, geh und hole mir den Ober-Jäger.“ 
Wache: „Jawohl Eure Majestät, zu Befehl.“ 
Ober-Jäger: „Sie wünschen Majestät?“ 
König: „Ich habe beschlossen, mir zehn neue Kutschen bauen zu lassen. Du sollst nun in den Wald gehen und die besten und schönsten Bäume ausfindig machen.“ 
Ober-Jäger: „Mein König! Diese Aufgabe ist bereits getan bevor sie ausgeführt wurde.“ 
König: „Wie könnt ihr den Auftrag erledigt haben. Ihr seid ja immer noch hier, mein lieber Ober-Jäger?“ 
Ober-Jäger: „Majestät können ganz beruhigt sein. Ich spreche die Wahrheit. Das Volk kann zwar nicht lesen und schreiben. Aber die Geschichten, die man sich über die wunderschönen Bäume am Flussufer erzählt, stimmen wirklich.“ 
König: „Woher willst denn Du das wissen? Bist Du etwa Hellseher?“ 
Ober-Jäger: „Nein mein König. Aber ich habe Augen im Kopf. Bei der letzten Wildschweinjagd habe ich die Bäume mit eigenen Augen gesehen. Als Majestät mir befahlen, dass erlegte Tier aufzuspüren.“ 
König: „Stimmt mein Lieber. Im dichten Flusswald hattet ihr das Tier gefunden.“ 
Ober-Jäger: „Die prächtigen Bäume waren mir gleich aufgefallen. Sie ragten so mächtig in den Himmel, dass es nur diese Bäume sein können, die in Frage kommen.“ 
König: „Ihr habt mich überzeugt. Lasst sofort zwanzig der höchsten Bäume fällen. Zum Geburtstag meines Sohnes, des Prinzen, sollen die Kutschen fertig sein.“ 
Ober-Jäger: „Euer Befehl wird sofort ausgeführt.“ 

Noch in der gleichen Stunde mussten die Holzfäller des Königs in den Wald eilen, um die besagten Bäume zu fällen. Sie wurden von Jägern und Soldaten des Königs begleitet. Diese sollten, wenn erforderlich, die Elfen des Waldes vertreiben. Niemand glaubte so recht daran, dass es überhaupt solche Wesen gab. Aber man konnte ja nie wissen. Und als der ganze Tross von Arbeitern, Jägern und Soldaten im Flusswald angekommen war, machte man sich sogleich an die beschwerliche Arbeit. Durch den großen Lärm wurden die Elfen in ihrem Mittagsschlaf aufgeschreckt. Sie wussten zunächst nicht, was geschehen war. Erst als sie sahen, was die Holzfäller im Wald anrichteten, war ihnen klar geworden, was die Männer des Königs im Wald suchten.

Laub-Elfe: „Hurtig, hurtig aufgewacht. Um den Schlaf sind wir gebracht. Können nicht mehr weiter ruhen. Müssen irgendetwas tun.“ 
Wurzel-Elfe: „Ach Du Schreck, ach Du Schreck, müssen wir nun alle weg? Dürfen nicht verweilen, müssen uns jetzt eilen.“ 
Baum-Elfe: „Oh weh, oh weh, oh je, oh je, die Säge tut den Bäumen weh. Das dürfen die nicht machen, dass sind so schlimme Sachen.“ 
Alle Elfen: „Doch unser Zauber ist zu schwach, was machen wir denn bloß jetzt, ach?“(seufz!!!) 
Laub-Elfe: „Ich hab die rettende Idee, wir gehen zum Zauberer, Herrn Jemine.“ 

Und so machten sich die drei Elfen augenblicklich auf den Weg, um den großen, bis in entfernteste Länder bekannte und berühmte Zauberer Jemine aufzusuchen. Zuvor jedoch griffen sich die drei Elfen mit Daumen und Zeigefinger an ihre Nasenspitzen und sagten den Zauberspruch: „Nasenloch und Ohrenschmalz, Dreck von einem langen Hals, spucke dreimal in die Hand, schon bist Du im Zauberland“. Und ob ihr's wohl alle glaubt oder nicht, waren die Elfen in Windeseile durch die Lüfte geflogen und beim Haus des Zauberers angelangt. Sie trafen den Zauberer Jemine gerade dabei an, als dieser sich auf seinen Zauberstab setzen und zu einer Reise starten wollte.

Alle Elfen: „Hallo Herr Jemine, bitte warten Sie, wir müssen unbedingt mit Ihnen sprechen.“ 
Jemine: „Ah die lieben Elfen. Kommt ihr mich auch mal wieder besuchen? Da habt ihr euch aber einen schlechten Zeitpunkt ausgewählt. Ich wollte gerade verreisen.“ 
Alle Elfen: „Verreisen!!!!! Wir brauchen euere Hilfe!!!!!!!“ 
Jemine: „Ja wenn das so ist, kann ich schlecht nein sagen. Diese Bitte kann ich euch nicht abschlagen. Kommt mit in mein Haus und lasst uns alles besprechen.“ 

Sofort begannen die Elfen damit, dem Zauberer Jemine alles zu erzählen, was sich bisher im Elfenwald zugetragen hatte. Jemine machte zunächst ein sehr betrübliches Gesicht. Es war im anzusehen, dass er ganz angestrengt nachdachte. Ganz plötzlich aber rief er mit lauter Stimme:

Jemine: „Ha!!! Ich hab`s.“ 
Baum-Elfe: „Ja wie denn, was denn, wo denn, warum denn?“ 
Jemine: „Ganz einfach. Ich habe die Lösung für euer Problem. Ihr müsst die Leute des Königs einfach wieder zurück ins Schloss verbannen.“ 
Wurzel-Elfe: „Und wie sollen wir das anstellen?“ 
Jemine: „Natürlich mit einem Zauberspruch.“ 
Laub-Elfe: „Aber unser Zauber reicht nicht aus um Menschen zu verzaubern.“